«Telemedizin entlastet, ersetzt Hausärzte aber nicht»

Silke Schmitt Oggier ist medizinische Leiterin bei santé24, dem Telemedizin-Service der SWICA. Die gelernte Kinder- und Jugendärztin mit einem Master in public health verantwortet ärztlich alles, was bei santé24 triagiert, diagnostiziert und therapiert wird. Im Interview blickt sie in die Zukunft der Telemedizin und sagt, wieso die Telemedizin die Hausärzte nicht ersetzen wird.

Frau Schmit Oggier, können Sie möglichst einfach erklärt, was santé24 ist?
Santé24 ist der Telemedizinanbieter der SWICA und eine Tochterfirma derselben. Wir funktionieren wie eine virtuelle Arztpraxis und sind rund um die Uhr für alle SWICA-Versicherten erreichbar. Es gibt Versicherungsmodelle, bei denen wir als erste Anlaufstelle genutzt werden müssen. Dies betrifft etwa die Hälfte aller Anrufe. Alle anderen können aber selbstverständlich auch von unserem Service profitieren.

Was gehört alles zur Telemedizin?
So genau definiert ist das nicht, unser Angebot ist sehr breit gefächert. Wir beraten Versicherte ganz klassisch, wenn sie krank sind, können weiterführende Labor- oder Röntgenuntersuchungen anordnen und medikamentöse Behandlungen durchführen. Auch externe Therapien wie Physio- oder Psychotherapien können wir verordnen oder zu Fachspezialisten überweisen. Wir haben auch ein psychologisch-psychiatrisches Team und Fachpersonen aus verschiedensten Bereichen wie beispielsweise Ernährungsberatung, Bewegungswissenschaft, Pharmazie oder Coaching angestellt und können Interventionen und Begleitungen in diesen Bereichen anbieten. Wir können auch agil neue Programme lancieren. So haben wir Anfang des Jahres sehr schnell ein telemedizinisches Long Covid-Begleitprogramm auf die Beine gestellt, mit dem wir betroffene Patienten über sechs Monate begleiten.

Seit neun Jahren hat Silke Schmitt Oggier die ärztliche Leitung des Telemedizinzentrums der SWICA, santé24.

Inwiefern ersetzt Telemedizin die Hausärzte?
Die Telemedizin entlastet eher die Hausärzte, als dass diese ersetzt werden. Es wird auch in Zukunft den persönlichen Kontakt brauchen, vor allem bei sehr akuten oder auch chronischen Patienten, die wirklich eine physische Untersuchung oder Betreuung durch einen Hausarzt benötigen.

Inwiefern kommt Telemedizin den Patienten zugute?
Telemedizin ist die heute einfachste Art für Patienten, kompetente und schnelle Hilfe bei Gesundheitsproblemen zu bekommen. Hier handelt es sich aber natürlich um Patienten, die keine physische Konsultation oder ausser Routine-Labor- oder -Bildgebungsdiagnostik keine weiteren Abklärungen oder Operationen benötigen. Auch, dass wir 24 Stunden täglich verfügbar sind, ist natürlich ein grosses Plus für unsere Patienten.

Hat die Corona-Pandemie die Entwicklung in diesem Bereich vorangetrieben?
Zumindest die Wahrnehmung und die Akzeptanz für Telemedizin ist in den vergangenen Jahren gestiegen, nicht nur bei den Patient/-innen, sondern auch bei unserer Ärzteschaft.

Für die starke Digitalisierung im Gesundheitswesen braucht es vor allem auch viele Daten. Inwiefern erschliessen diese riesigen Datenmengen auch neue Geschäftsfelder?
Ich würde eher sagen, die Digitalisierung schafft Daten. Diese Daten, wenn sinnvoll genutzt, können helfen, Krankheiten besser zu diagnostizieren oder auch zu behandeln. Diese Daten zu sammeln, auszuwerten und die Resultate verfügbar zu machen, erschliesst aber natürlich Geschäftsfelder. Das Ganze kann auch negativ genutzt werden, indem Patienten Medikamente, Zusatzstoffe oder Geräte verkauft werden sollen, die diese nicht brauchen. Deshalb sollte man sich gut überlegen, welche Fitness- oder Gesundheitsdaten man welchen Anbietern von Trackern oder elektronischen Aufzeichnungsgeräten zur Verfügung stellt.

Wie steht die Schweiz in Sachen Telemedizin/Digitalisierung im Gesundheitswesen im internationalen Vergleich da?
Es gibt Länder, die deutlich weiter sind als die Schweiz. Entweder, weil sie aufgrund ihrer Geografie oder begrenzten Mittel schon früher überlegen mussten, wie sie ärztliche Versorgung in wenig besiedelte oder weit abgelegene Gebiete bringen können. Hier könnte man Australien oder Israel nennen. Dann gibt es Länder, die ein anderes Verhältnis zum Datenschutz haben. Nicht, dass sie den Datenschutz nicht sehr ernst nehmen. In diesen Ländern, wie Estland ist klar, dass alle Daten elektronisch erhoben und geteilt werden. Jederzeit kann aber geprüft werden, ob jemand unberechtigt zugegriffen hat. Allerdings muss man sagen, dass unsere direkten Nachbarländer auch nicht besser dastehen. Bisher haben wir in der Schweiz noch zu wenig Druck, um Telemedizin noch mehr zu fördern.

Mit Geräten wie dem TytoHome können Patienten zuhause einfache Untersuchungen selbst durchführen.

Was könnte in Zukunft noch neu kommen?
Ich könnte jetzt viele neue Modelle und Strategien nennen, beschränke mich aber auf eines: Es wird immer mehr Geräte geben wie das TytoHome, welches wir vertreiben, mit denen Patienten auch selber Untersuchungen durchführen können. Mit einem solchen Gerät kann man als Laie Herz und Lungen abhören, die Ohren und den Rachen spiegeln, Temperatur und Puls messen oder ein kurzes Video von sich aufnehmen. Der Arzt kann sich das Ganze an einem anderen Ort anschauen und durch das Gespräch mit dem Patienten entscheiden, was zu tun ist. So können Patienten auch von zuhause aus «zum Arzt gehen».

Inwiefern ist Winterthur dafür ein guter Standort?
Der Standort ist heute tatsächlich wesentlich weniger relevant als früher. Heute ist es um gute Gesundheitsfachkräfte und Ärzte rekrutieren zu können von Vorteil, an verschiedenen Standorten präsent zu sein und Arbeiten auch im Homeoffice anbieten zu können. Da der SWICA-Hauptsitz und die Generaldirektion aber in Winterthur sind, ist unser Hauptsitz selbstverständlich auch hier.

Haben Sie einen Bezug zu Winterthur, wenn ja welchen?
Winterthur ist seit fast neun Jahren meine berufliche Heimat, so dass ich auch wenn ich von zuhause aus arbeite, das Gefühl habe, in Winterthur zu sein.

Interview: Linda Stratacò, Dezember 2022